Mehr Schein als Sein

Warum  manche Angebote mich sprachlos zurück lassen und ich Erfahrungsberichte zur Untermauerung meiner Worte einsetze. Der Blogpost ist lang. 

 

Was mich zum einen zu diesem Blogpost gebracht hat, war die Anfrage einer Frau, die derzeit unter dem sog. Gewaltschutz steht aufgrund des gewalttätigen Ex-Partners. Sie fragte, ob es gute Online-Anbieter gibt, damit sie etwas in Richtung Selbstverteidigung tun kann, denn der Gewaltschutz würde knapp nach der Ausgangsbeschränkung (sofern wir davon ausgehen, dass diese Mitte April aufgehoben würde) beendet werden. Sie stünde also wieder allein da und muss komplett auf sich achten. Es ist davon auszugehen, dass ihr Ex-Partner auf Rache sinnt.

 

Zum anderen habe ich auf der Seite einer Beratungsstelle für Frauen in Not in unserer Landeshauptstadt ein Posting mitbekommen, in dem diese als Ostergeschenk für Frauen den sogenannten Schrillalarm bewirbt. Auszug:

 

„Selfdefense für Mädchen* und Frauen* Personal Alarm oder Abwehralarm als Taschenanhänger. Bitte achtet beim Kauf darauf, dass die Geräte mindestens 140 Dezibel haben. Schrillalarme sind bei Bedrohung und Überfällen eine wirkungsvollere Abwehr, als Pfeffersprays. Diese können nicht in Räumen angewendet werden und auch nicht gegen einen selbst gerichtet werden. Der Vorteil daran ist, dass die Öffentlichkeit alarmiert und aufmerksam wird.“ (1)

 

Beide Dinge passen unheimlich gut ineinander, daher dieser Blogpost.

 

Wer mich kennt, weiß, dass ich diesen Schrillalarm ablehne. Ich verweise hierzu auch auf den Blogpost „Pfefferspray & Co.“, damit ich hier nicht so viel doppelt schreibe. Sobald ich sehe, dass jemand den Schrillalarm bewirbt, oder toll findet, kommentiere ich dazu, warum ich das eben nicht so sehe. Ich schalte mich also bewusst ein, um ein offenes Bewusstsein zu öffnen, neue Erkenntnisse zu wecken.

 

In meinem Kommentar habe ich höflich und sachlich dargelegt, warum ich den Schrillalarm für absolut ungeeignet halte und mich auch kurz zu Pfeffersprays ausgelassen und erhielt folgende Antwort:

 

„Wir haben andere Erfahrungswerte und sehen die Schrillalarme als gute zusätzliche Möglichkeit der Selbstverteidigung. Auch Aussagen der Polizei stimmen mit unserer Einschätzung überein. Nicht zu empfehlen ist Pfefferspray, da es gegen die Frau selbst angewendet werden kann oder in Räumen unbrauchbar ist. Unserer Ansicht nach geht es um ein sowohl als auch und nicht um ein entweder oder. Jedes Mädchen* und jede Frau* sollte Selbstverteidigung lernen. Und wir empfehlen hier besonders Wendo. Auch hier haben wir gute Erfahrungswerte. Kämpfen ist eine Möglichkeit neben Flucht, Schreien, Deeskalieren und anderen wirksamen Tricks. Auch hier gilt für uns: Alles, was Frauen stärkt, ist klasse.“ (2)

 

Hierauf habe ich noch einmal geantwortet (anzumerken ist, dass mein geschätzter Kollege Ehsan Montaseri von KOMAK** einen längeren Atem hatte auf die Kommentare einzugehen, ich war dann echt durch und sprachlos):

 

„… Ich möchte gerne Statistiken sehen, wo ein Täter aufgrund eines Schrillalarms von seinem Opfer abließ. Ich finde keine. Pfefferspray sollte nie empfohlen werden, weil es im Fall der Fälle die Notwehrlage verpuffen lassen kann. Wenn, dann CS Gas. Und JEDE Waffe kann gegen einen verwendet werden. Aber nicht, wenn meine „Waffe“ mein Körper und meine mentale Stabilität sind. Wenn schon ein SV Training aufgegriffen wird, dann bitte eines, das unter Stress funktioniert. Das auch die gebührende Härte trainiert (nach entsprechendem Aufbau durch den Traininggebenden). Jede Frau soll und muss für sich herausfinden, was für sie gut ist. Ich halte Wendo nicht für geeignet. Das ist allerdings nur meine Meinung.“ (3)

 

Ich mache nie andere Selbstverteidigungsarten schlecht. Ich sage nur, welche ich für geeignet halte und welche nicht und warum. Ich bin ja auch der Meinung, dass Kampfsport und Kampfkünste super sind für die körperliche Fitness und geistige Disziplin, aber alle – da sie Regeln unterworfen sind und zum Erlernen der leider oft geforderten perfekten Ausübung Jahre benötigt werden – nicht für die Selbstverteidigung taugen. Ich werde mich hierzu nicht weiter auslassen, der Blogpost wird sowieso schon lang werden.

 

Nacheinander werde ich nun unsere Worte aufdröseln und erklären, wie ich es verstehe und was ich davon halte. Beginnen wir mit dem Ursprungsposting (1).

 

… Schrillalarme sind bei Bedrohung und Überfällen eine wirkungsvollere Abwehr, als Pfeffersprays…

 

Nein.

 

Das war kurz. Aber es ist so. Schrillalarme sind keine wirkungsvolle Abwehr, um mal nur mit dem ersten Halbsatz zu beginnen.

 

Der zweite Halbsatz „als Pfeffersprays“ bedeutet für mich, dass man auch ruhig Pfefferspray nehmen kann. Dass Pfefferspray eine Alternative ist. NEIN. Pfefferspray ist gar keine Alternative. Niemals. Das so zu schreiben ist laienhaft und für mich bereits fahrlässig.

 

… Diese können nicht in Räumen angewendet werden und auch nicht gegen einen selbst gerichtet werden...

 

Ich gehe davon aus, dass gemeint ist, dass Pfeffersprays nicht in Räumen benutzt werden können (können sie schon, ist halt dann für alle doof) und dass der Schrillalarm nicht gegen einen verwendet werden kann. Er sollte gar nicht verwendet werden. Diese Sätze beinhalten für mich, dass sie die Benutzung von Pfefferspray nicht ausschließen. Ungut.

Natürlich kann ein Täter mit dem Schrillalarm nichts machen, außer den Splint, der ihn wieder verstummen lässt (den Schrillalarm, nicht den Täter), wieder einzusetzen. Das Pfefferspray könnte er dem Opfer entreißen und diesem ins Gesicht feuern. Auch ein Grund, warum ich immer sage, dass man sich mit „Bewaffnung“ sicher sein sollte.

 

Und jetzt der Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt:

 

… Der Vorteil daran ist, dass die Öffentlichkeit alarmiert und aufmerksam wird…

 

Ich lege mein Leben also in fremde Hände. Ich warte also auf den Ritter in schimmernder Wehr auf seinem Schimmel auf das er die Prinzessin rettet. Zu Hülf, ein Unhold!

Ernsthaft?

In der heutigen Zeit, in der stellenweise mehr Egoismus herrscht, als Coronaviren, soll ich darauf hoffen, dass jemand das fiepende Geräusch als bedeutsamen Alarm (rennt ihr zu einer Autoalarmanlage, wenn es nicht euer Auto ist?) erkennt UND genug Mutes ist, loszusprinten, um einer fremden Person zu helfen? Erkennt derjenige bei all den Umgebungsgeräuschen, in welche Richtung er laufen muss?

 

Zivilcourage ist was Tolles. Wirklich!

Ich habe einen Zivilcourage-Kurs bei der Polizei mitgemacht. Aus Neugier, weil ich wissen wollte, was sie einem dort erklären. Nun, dass die Polizei nicht zu Gewalt raten darf, hatte ich ja schon erwähnt. Der Kurs war nett.

 

Aber in meinem Leben würde ich mich nicht darauf verlassen, dass, wenn ich um Hilfe schreie, oder einen Alarm fiepen lasse, wirklich jemand kommt. Viele Menschen gehen ja bereits an offensichtlichen Streithähnen (Mann vs. Frau, Bahnhof, verbale Auseinandersetzung, Schubsen, Geltendorf!!) vorbei, weil sie nicht in Mitleidenschaft gezogen werden wollen.

 

Hut ab an dieser Position an Menschen, denen Zivilcourage wirklich etwas bedeutet, die eingreifen und helfen und leider auch ihr Leben ließen. Solche Informationen gibt es nicht wenige und lassen andere sehr vorsichtig werden.

 

Selbstverteidigung ist nicht SELBSTverteidigung, wenn ich auf jemand anderen warte.

 

Weiter mit der Antwort auf meinen Kommentar (2):

 

… Wir haben andere Erfahrungswerte…

 

Link? Statistik? Wo kann ich das finden? Woher stammen sie? Wer hat ihnen das zugetragen? Eigens ausprobieren müssen?

 

So eine Aussage ist mir zu vage. So eine Aussage verleitet mich zu dem Gedanken „ich will aber meinen Schrillalarm!!“ Wenn jemand, der auf Gewaltopfer spezialisiert ist und dahingehend berät, so eine Aussage tätigt, gehören da m.E. auch nachvollziehbare Ergebnisse dazu. Sonst nehme ich das nicht Ernst.

 

… Nicht zu empfehlen ist Pfefferspray, da es gegen die Frau selbst angewendet werden kann oder in Räumen unbrauchbar ist…

 

Ach… jetzt doch nicht? Aber sie empfehlen es deshalb nicht, weil man es nicht in Räumen benutzen kann und es gegen einen selbst gerichtet werden kann. Aber draußen ist somit okay? Was denn nun… NIEMALS Pfefferspray! Ganz einfach.

 

… Und wir empfehlen hier besonders Wendo. Auch hier haben wir gute Erfahrungswerte. Kämpfen ist eine Möglichkeit neben Flucht, Schreien, Deeskalieren und anderen wirksamen Tricks…

 

Ein Tipp! Gefällt mir. Habe ich gleich mal nachgeforscht was Wendo ist. Ich habe ein Youtube Video gefunden.

 

Ich war sprachlos.

 

Aber nicht vor Ehrfurcht, sondern vor Entsetzen. Spoiler: Es ist nicht alles schlecht. Ich halte nur sehr viel für absolut irrelevant, nicht unterstützend, nicht hilfreich, stellenweise fatal für die Lernende und möchte niemals an einem solchen Kurs teilnehmen. Die Inhalte sind ein wenig wie der Zivilcouragekurs der Polizei mit ein wenig auf eine Handpratze schlagen. Das haben wir bei dem Kurs der Polizei übrigens auch gemacht.

 

Was mich zu der Erkenntnis bringt, dass die Beratungsstelle fast eins zu eins das übernimmt, was die Polizei rät (weil sie nicht anders darf), aber Frauen in eine Ecke drängen wird. Klar, gehen sie erstmal aus dem Kurs und fühlen sich, als könnten sie jeden Kerl umtreten. Sie fühlen sich so…

 

Das, was ich in dem Video sah, wird zu 80 % nicht funktionieren. Warum, erzähle ich euch später.

 

Der zweite Satz ist okay. Aber… (es tut mir ja leid!)… Kampf muss trainiert werden. Flucht MUSS trainiert werden. Schreien muss trainiert werden und Deeskalation, also jemanden verbal zur Ruhe bringen, tja, das braucht Kurse. Da sitzen z. B. Polizisten in eigens dafür angelegten Weiterbildungen. Ich maße mir nicht an zu sagen, ich könne super deeskalieren. Einfach, weil ich nie einen Kurs dazu besuchte. Klar, kann es funktionieren, wenn ich reden kann, dass ich jemanden so zuquatsche, dass der freiwillig geht. Vielleicht. Aber man sollte nie vergessen, dass man schon unter Stress oder Angst steht. Wie viel Platz ist da noch für „Gesülze“.

 

Alles in allem: Bitte macht verschiedene Trainings, bei verschiedenen Anbietern, mit verschiedenen Trainern. Auch ich weiß nicht alles. Aber ich schwöre euch auf die Gewalt, die euch entgegen brettern könnte, ein. Ich setze mich nicht mit euch in einen Kreis und wir fassen uns an den Händen und singen Kumbaya (kam nicht im Video vor, aber es war nicht weit davon weg).

 

Ein Training muss so gestaltet sein, dass man auch mal unter Druck gerät. Es sollte dynamisch sein und variabel. Es sollte Alternativen zeigen können. Techniken MÜSSEN unter Stress funktionieren. Sonst bringt das alles nichts.

 

Zu meiner Antwort (3) brauche ich ja nichts weiter auszuführen.

 

Nochmal zurück zum Video.

 

Ich möchte hier gar nicht auf alles eingehen. Der Blogpost hätte dann Buchstärke. Was ich sah waren Atemübungen, untechnisch (und hoch verletzungsanfällig) auf eine Handpratze schlagen, ein Brettchen zerschlagen, Stimmtraining, sowie jemanden, der in der Tür steht, anschreien und wegschieben.

 

Würde ich das hier nicht schreiben, sondern vortragen, ließe ich hier eine bedeutungsschwangere Pause zum Selbstnachdenken und sacken lassen. Eine leere Seite zum runterscrollen hat aber leider nicht denselben Effekt. Also machen wir weiter.

 

Atemübungen.

Ja, nett. Wozu? Um bei sich anzukommen? Seine Mitte zu fühlen? Sich zu erden?

Nur zur Erinnerung: Es handelt sich um einen Selbstverteidigungskurs.

 

Auf eine Handpratze schlagen.

Ja, mache ich in meinen Kursen auch. NACHDEM ich angeleitet habe, wie die Handhaltung auszusehen hat. Nachdem ich erklärt habe, dass wir nicht Thors Hammer werfen, sondern die Kraft aus Schulter und Körperdrehung kommt und nicht aus dem Arm. Nachdem ich gesagt habe, dass, wenn die Schlagende ausholt, jeder Gegner sofort erkennt, dass sie schlagen will und wohin.

Ich erkläre IMMER, dass ein gerader Boxerpunch für Untrainierte (aber auch für dauertrainierende Boxer!) unheimlich verletzungsanfällig ist. Ist die Hand einmal gebrochen, ist sie unbrauchbar (ach). Weswegen ich den geraden Boxerpunch eigentlich nicht empfehle. Es gibt leichtere Techniken.

 

Ein Brettchen zerschlagen.

Aha. Wozu? Selbstbewusstsein erhöhen? Kraft erfahren? Brennholz wird benötigt?

Sorry, das hat in einem Selbstverteidigungskurs nichts verloren. Das hat meine Tochter gemacht, als sie 8 Jahre alt war und in Taekwondo ihre erste Gürtelprüfung absolvierte. Es gehört zur Kampfkunst. Ein Brettchen wehrt sich nicht. Ein Brettchen weicht nicht aus.

 

Stimmtraining.

Mache ich auch. Die meisten Damen haben schon in der Kindheit gelernt, dass sie leise sein sollen. Dass man nicht laut sein darf als Mädchen. Das man nicht schreit. Zudem vergisst man in der Schrecksituation seine Stimme. Sie bleibt einem buchstäblich im Halse stecken.

Die Stimme benötigt Luft, um laut zu sein.

Mit meiner Stimme kann ich übrigens auch Leute auf mich aufmerksam machen. Oder die Security. Dazu brauch ich nicht so ein kleines Dings.

Die Stimme kann Kraft entfesseln.

Das Nein-Training mit Kindern, die endlich einmal Schreien dürfen, ist unheimlich klasse.

 

Jemanden, der in der Tür steht, anschreien und wegschubsen.

Really?

Zur Prävention gehört ja auch, dass man sich Szenarien vorstellt und in Ruhe überlegen kann, was man tun könnte. Machen wir das doch mal.

 

Wir stellen uns einen Kerl vor, der schon länger über uns herrscht. Der uns schon länger klein hält, vielleicht schon mal geschlagen hat. Ein Kerl 1,90m groß, kräftig. Geben wir uns dem möglichen Gefühl hin. Nein, nicht Erregung. Es ist Angst. Der Typ steht nämlich in der Tür. Er versperrt uns den Weg nach draußen. Er grinst süffisant oder guckt verärgert. Er droht vielleicht.

 

Wir sollen jetzt also nah (!!) an diese Person, die uns vermutlich schon körperlich verletzt hatte, oder es garantiert schon lang mit Worten tut, stellen und sie anbrüllen, sie möge uns vorbei lassen. Diese Person, die garantiert einen Kopf größer ist als wir.

 

Wir sollen so nah an diese Person heran treten, dass wir uns an ihr vorbeiquetschen können, oder sie sogar wegschieben respektive wegschubsen können.

 

Na, fühlt ihr auch die Stärke aus dem Stimmtraining? Seid ihr euch auch so sicher, dass diese Person, die euch garantiert nichts Gutes will, jetzt durch euer Gebrülle eingeschüchtert ist und euch den Weg freimachen wird?

 

Wenn eure Antwort „ja“ ist, seid ihr euch leider der Situation nicht bewusst und es freut mich, dass ihr sie nie erleben musstet. Ich kann eine Frau zitieren, die es genau so versucht hat und die leider kläglich scheiterte. Diese Frau ist die Frau, die ich oben bereits erwähnte, die derzeit unter Gewaltschutz steht.

 

Dieser Mann wird zwar merken, dass ihr sicherer geworden seid, dass es euch Ernst ist. Aber… dieser Mann will seine Macht über euch nicht verlieren. Mit Schreien macht ihr ihn wütend. Er wird seine Position verteidigen wollen. Er wird euch zeigen wollen, wer das Sagen hat. Ihr werdet nicht nur eine Schelle einfangen. Er wird wissen, dass ihr aufbegehren wollt und das wird er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unterbinden wollen.

 

Das ist in dem Szenario leider noch nicht alles.

 

Gehen wir weiter. Nun hat er sich durch euer Geschrei nicht aus der Ruhe bringen lassen und ihr steht drängelnd an ihm.

 

Die Frau – die Schülerin – in dem Video drängelte sich erfolgreich an der anderen Frau, die kleiner war als sie, vorbei. Sie drängelte sich vorbei und schaute vom Täter weg.

 

Als ich das sah, entwich mir ein kurzer Schrei. Nicht vor Verzückung, dass sie die Übung meisterte.

 

Erstens: Die Voraussetzungen zu dem Szenario sind denkbar ungeeignet (kleinerer Gegner, der irgendwann mitmacht). Die Wirkung verpufft. Die gewählte Protagonistin wird nicht gegenhalten. Auch wird die Trainerin ihr irgendwann zu verstehen geben, dass sie ihr „Opfer“ nun mal durchlassen sollte.

 

Zweitens: Das Schlimmste war das Wegsehen des vermeintlichen Opfers. Also der Dränglerin.

 

Was wäre wenn…

 

Was wäre wenn der Täter dann ein Messer zieht? Sie sieht es nicht. Sie sieht ihn nicht. Sie sieht seine Hände nicht.

 

Was wäre wenn der Täter sich anders bewegt als gedacht? Wenn er z. B. den Arm um ihren Hals presst und sie in den Raum zurück schleift?

 

Was wäre wenn der Täter dann abrupt zuschlägt, oder sie hinterrücks zu Fall bringt?

 

Man unterstellt mir Pessimismus. Und manchmal Paranoia. Von mir aus. Ich möchte aber lieber auf Szenarien eingestellt sein, die sich tatsächlich ergeben könnten.

 

Die körperliche Nähe zum Täter (der noch nichts macht) ist zu vermeiden! Ich begebe mich nicht freiwillig in Schlagdistanz. Ich greife nicht an. Ich bereite mich mental vor. Auch Flucht kann immer eine Option sein.

 

Bin ich in der Nähe des Täters, muss ich auf mögliche Gefahren durch Waffen sensibilisiert sein (vorher aufpassen!).

 

Ich kehre meinem Gegner NIEMALS den Rücken zu! Eine Flucht erfolgt zunächst sozusagen rückwärts. Ich muss sehen, ob der Täter nachkommt. Deswegen muss das ja auch geübt werden, nicht, dass ich dann die Treppe herunterstürze oder an dem nächsten Lastwagen klebe.

 

Das sind für mich die gravierendsten Punkte aus dem Video. In dem Video wird auch unterschwellig sehr deutlich, dass wir Frauen nach wie vor als schwach gelten. Sehr schade.

 

Nachstehend zitiere ich die o. g. Dame, die mir ihre Erlaubnis hierzu gegeben hat. Aus verständlichen Gründen werde ich sie nicht namentlich nennen.

 

Erste Reaktion:

 

„Das ist genau das, was in diesen Gefilden falsch läuft. Wir sind nicht schwach, verdammt nochmal. Wir werden nur ständig klein geredet. Und wenn irgendwer, egal ob m oder w, mutwillig angegriffen wird, verdient es der Angreifer so dermaßen eins in die Fresse zu kriegen, dass ihn die eigene Mutter nicht mehr erkennt!“

 

Auf Nachfrage, ob ihr so ein Kurs geholfen hätte:

 

„Nee, ich wäre stinkwütend und voller Verachtung abgerauscht. Aber sind wir mal ehrlich: Es wird viele geben, die auf diesen Kitsch reinfallen und bei einer Wiederbegegnung (Anm.: mit dem Täter) voll in die Falle laufen.“

 

Auf meinen Hinweis, das auch mir von einer Selbstverteidigungstrainerin mal nahe gelegt wurde, dass man sich nett in einen Kreis setzen sollte:

 

„Wtf. Ja, so eine Klangschalentherapie hilft bestimmt toll bei nem Angriff. Wenn man dem Angreifer die Schale an den Schädel haut und den Klöppel dahin steckt, wo keine Sonne scheint.“

 

(Ich liebe ja diese Ausdrucksweise!!! :D)

 

Weiter erzählte sie:

 

„Mein Ex-Chef (Wing Tsun Ausbildung) sagte mal: Pazifismus muss man sich leisten können.

Ich finde, damit hat er völlig recht. Diese trügerische Sicherheit, die da vermittelt wird, wird bei nem erneuten Angriff zum Verhängnis. Und WENN das Opfer überlebt, stürzt es ganz tief. So blöd wie es klingt. Aber am wirkungsvollsten, einprägsamsten und augenöffnendsten  waren die Gespräche, wo man mir sehr unverblümt, plastisch und direkt sagte, was passieren wird. Weil es mir durch den Schock erstmal den Schleier von den Augen gerissen hat.

Bei einem Angriff, bei dem es nicht darum geht, dir etwas zu nehmen, sondern dir etwas zuzufügen, kennt der Täter doch keine Deeskalation o. ä. Den kann  man nicht überreden.“

 

Ihr Ex-Partner war und ist davon überzeugt, dass sie sein Verhalten provoziert und er sie erziehen muss (mit Schlägen). Ich bin überzeugt, hier würde nur eine Therapie helfen. Vielleicht. Aber Deeskalation? Nein. Absolute Unterwerfung? Vielleicht. Wollen wir das?

 

Wir sprachen dann über das Anbrüllen des Täters. Sie sagte dazu folgendes:

 

„Anbrüllen. So ein Unsinn. Es dient nicht zur Abwehr, sondern um auf sich aufmerksam zu machen. Einen überzeugten Täter wirst du so nicht los. Ich bin laut. Verdammt laut. Ich kann meine Kinder von einem Ende des Sportplatzes zum anderen Ende sagen, dass sie den Mist sein lassen sollen und sie verstehen jedes Wort. In der Situation (Anm.: mit dem Ex) hat es genau Null geholfen. Außer, dass es ihm gefallen hat. Im blödesten Fall rastet er aus und versucht dich zum Schweigen zu bringen. Aber dass jmd kommt, oder die Polizei ruft, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Mär von der Zivilcourage.“

 

Zu dem Punkt, sich am Täter vorbeizuschieben:

 

„Ist das Vorbeischieben an der Trainerin in der Tür tatsächlich das gewollte Verhalten? Sowas hat mir einen Freiflug durchs Wohnzimmer beschert. Bullshit! Das hilft vllt gegen Möchtegerne und Pöbler. Aber nicht gegen einen echten Angriff. Schön, wenn diese Technik Selbstbewusstsein geben soll. Wie viel ist davon noch übrig, wenn diejenige am Boden liegt? Weil es eben kein Gernegroß ist, der sie nur erschrecken will? Weil es dem Angreifer tatsächlich um Leib und Leben geht? Ich fass es nicht.“

 

Das ist die Reaktion von einer Frau, die es leider am eigenen Körper erfahren musste, wenn der Partner Täter ist. Das kann einer aber auch passieren, ohne dass es der eigene Partner ist.

Ich habe im Blogpost, in dem ich Ophelia zitierte und ihre Geschichte festhielt, genug darüber geschrieben, wie sich manche Männer verhalten, wenn sie abgewiesen werden.

Ich habe nach Erfahrungsberichten die Vermutung, dass sich dieses Verhalten, also diese Aggressivität, potenziert, wenn es sich um den Partner handelt. Dies ist aber nur meine Einschätzung und basiert nicht auf Statistiken.

 

Diese Erfahrungsberichte sollen euch beileibe keine Angst machen. Sie sollen eure Augen öffnen. Damit ihr euch bewusster mit der möglichen Gefahr und möglichen Situationen auseinander setzen könnt und auch versteht, warum ich manche Workshops und Trainings nicht gutheißen kann.

 

Es geht darum zu erkennen, was gut für euch sein kann und was nicht. Erst letztens habe ich auf FB wieder erklärt, warum ich es für einen Fehler halte, Kindern diese Passwort-Abwehr (wenn jemand zu ihnen geht und sagt, komm mit, deine Mama schickt mich, ich soll dich holen, ihr geht es schlecht) beizubringen. Die meisten halten diese Idee für super. Ich nicht. Einfach deswegen, weil ich grundlegend Täterkontakt vermeiden will und Kinder sich noch überreden lassen (was, wenn es der Mama wirklich schlecht geht…). Dies als kleine Exkursion.

 

In den weiteren Kommentaren fanden sich noch Aussagen wie „oh ja, so einen Alarm habe ich noch irgendwo herum liegen“. Oh schön. Irgendwo. Herumliegen. Eine andere Dame meinte, sie trüge ihn in ihrer Jackentasche. Diese geistige Blindheit (sorry) tut mir wirklich weh.

 

Davon abgesehen, dass ihr euer Geld nicht für einen Schrillalarm ausgeben solltet:

Der Schrillalarm gehört an eine Tasche. Fest verbunden. Er ist wie ein Schlüsselanhänger (bitte nicht am Schlüsselbund befestigen!). Er sollte so hängen, dass man ihn sofort greifen kann. Liebe Damen, ihr kennt Handtaschen. Die Dinger sind ein schwarzes Loch. Manchmal sind die Beutel so wabbelig, dass ein Anhängerchen sonstwo hängt, aber garantiert nicht sofort greifbar ist (präventiv wäre, ihn dauerhaft befestigt und dann dauerhaft in der Hand zu halten). In der Jackentasche aufbewahrt, hilft er gar nichts. Denn, damit er schreit, muss man einen Stift ziehen. Hierzu brauche ich, wenn ich ihn nicht an einem Ring an der Tasche befestigt habe, beide Hände.

Beide Hände müssen also nach dem Ding grabbeln, das irgendwo in den Untiefen der Manteltasche sein Dasein fristet, in einer Schrecksituation, die unseren Kopf im ersten Moment sowieso überfordert.

Muss ich eigentlich noch mehr sagen?

 

Nur noch eines. In einem Werbevideo für Selbstverteidigung (ich glaube diese Reportage lief auf RTL) warb der Polizist für den Schrillalarm und meinte, es wäre eine gute Idee, den Alarm auszulösen und das kleine Gerät dann von sich zu werfen. Es würde dann ja nicht aufhören zu schreien und der Täter möchte ja nicht erkannt werden.

Spoiler: Der Täter möchte NIE erkannt werden.

Er hat aber immer noch genügend Zeit, der Dame, die da ggf. steht und wartet, dass der Täter wegläuft, weil sie partout vergessen hat zu flüchten, die Handtasche zu entreißen, oder ihr eine aufs Fressbrett zu zimmern. Sie schreit dann gewiss auch, weil fehlende Zähne Schmerzen hinterlassen.

 

Noch eine weitere Exkursion:

In dem besagten Video auf RTL wurde die Reporterin vorbereitet, dass sie in einer schön großen Unterführung am helllichten Tage "angegriffen" werden wird und hierfür das Fake-Pfefferspray zur Verteidigung dabei hat. 
Diese Frau wusste also was passiert, man hatte ihr eine Bewaffnung gegeben und sie vorbereitet.

Sie hatte die Hand tatsächlich in der Jackentasche, in der sich das Spray befand. Aus einer Ecke kam (tatsächlich etwas überraschend) der vermeintliche Täter. 

Nun, die Reporterin war so überrascht und entsetzt, dass sie nicht einmal die Hand aus der Jackentasche bekam. 

Und das in einer vorbereiteten und abgesprochenen Situation! Wie muss das dann erst in einer echten Überfallsituation sein...

 

Ich finde die Beratungsseite und deren allgemeines Hilfeangebot ansonsten gut. Es ist wichtig, dass Frauen solche Anlaufstellen haben. Dennoch bitte ich euch, im Fall der Fälle euren Kopf weiterhin zu benutzen und auf euer Bauchgefühl zu hören.

 

So weit so gut. Ich hoffe, ich konnte euch ein paar grundlegende Dinge vermitteln und auch, dass ihr auf euch achtet, welche Angebote gut für euch sind. Hinterfragt. Fragt. Überlegt. Ich bin absolut von euch überzeugt!

 

Erwartet nicht ängstlich hinter jeder Hecke und in jeder Tiefgarage einen Täter. Erwartet ein Opfer.

Denn wenn ihr vorbereitet seid, wird er nicht lange Täter sein.

 

Für Fragen und Anregungen gerne mailen.

 

Bleibt gesund!

 

 

**Ehsan Montaseri ist Trainer und Erfinder des SV Systems KOMAK. KOMAK ist persisch und bedeutet „Helfen“. Ehsan betreut u. a. auch Frauen, die Gewalt zum Opfer fielen und hat noch ganz andere Erfahrungswerte, weshalb ich den Erfahrungs- und Meinungsaustausch sehr schätze.