Nähkästchen

Habt ihr euch schon einmal gefragt, ob die vor euch stehende Selbstverteidigungstrainerin bereits eigene Gewalterfahrungen hinter sich hat? Warum sie die Ausbildung gemacht hat? In diesem Blogpost möchte ich euch das gerne erzählen.

 

In meinen ganzen Frauenkursen, oder auch in den gemischten Workshops und Trainings, wurde ich nie gefragt, ob ich schon mal angegriffen worden war. Aber in meinen Kinder-Workshops. Kinder fragen ganz anders. Genauso, wie Frauen ganz anders fragen, wenn sie unter sich sind.

 

So haben Kinder keine Scheu auch Unangenehmes zu erfragen, ganz anders als Erwachsene, die sich ggf. vorher noch überlegen, ob sie jemandem zu nahe treten würden. Somit beantwortete ich die Frage, ob mir denn schon einmal was passiert sei, ganz einfach mit ja.

 

Kindheit / Jugend

Meine Kindheit verlief ruhig. Viele Kleinigkeiten, die passierten, nahm man stellenweise nur als Hänselei wahr, oder fast als „normal“. Das suggerierte einem auch die Erziehung und das immer noch vorherrschende Bild von Mann und Frau, respektive Mädchen und Junge.

Den ersten Übergriff eines Jungen erfuhr ich im Alter von ca. 10 Jahren. Ich hatte ein paar Tage zuvor in der Schule mit jemand anderem einen Streich gespielt. Wir hatten die Tafel innen mit Penissen etc. bemalt und uns am nächsten Tag unheimlich darüber beömmelt, als die Lehrerin die Tafel aufklappte und das Gebrüll in der Klasse groß war. Es kam natürlich nicht ans Licht, wer die Übeltäter waren.

 

Einer der Jungs hatte es wohl aber erzählt. Jedenfalls kam ein paar Tage danach ein Junge auf mich zu und sagte, er wisse, dass ich das mit der Tafel war und wenn ich ihm keinen Kuss gebe und ihn umarmen würde, dann würde er mich verpetzen. Da ich nicht hardcore war, war mir das Verpetzen auch nicht egal und ich fühlte mich unwahrscheinlich schlecht. Ich wollte diesen Jungen aber auch nicht küssen. Ich mochte ihn einfach auch so überhaupt nicht. Und iiiiihhhhh einen Jungen küssen…

 

Er bedrängte mich jeden Tag aufs Neue. Ich willigte nie ein und sagte immer nein. Auf dem Heimweg passierte es dann. Er bedrängte mich und sagte „wenn das keiner sehen soll, dann tue doch so, als würdest du stolpern und dann fall ich auf dich drauf und kann mich auf dich legen und küssen“. Ich fand den Gedanken so abstoßend. Ich sagte wieder nein, doch plötzlich fiel ich. Ich weiß nicht mehr warum. Hatte er mir Bein gestellt? Jedenfalls fiel ich, drehte mich und schon lag er auf mir und drückte mir seine Lippen auf meine. Ich reagierte sofort und stieß ihn von mir herunter und ging weiter. Danach ließ er mich in Ruhe. Ich erzählte es niemandem. Irgendwann habe ich nicht mehr daran gedacht. Aber es eben auch nie vergessen.

 

Ein paar Jahre später war ich mit meinen Eltern nach Bayern umgezogen. Hier in LL gab es da ja noch das Bayertorfest. Ich war 14 Jahre alt.

 

Der Weg vom Bayertor bis nach Hause ging gerade die Straße hoch. Ein Kilometer. Nicht mehr. Gute 10 Minuten im schnellen Gang. Ich durfte zum Fest und traf mich mit ein paar Freundinnen. Ich hatte mich schick gemacht: weites Schlabbershirt, ¾ Jeans, die von mir etwas bemalt worden war mit Blumen und mit Pailetten bestickt, bordeaux-rote Chucks. Ich hatte immer schon kurze Haare. Ich war nicht geschminkt. Ein völlig normales Mädchen. Nichts war figurbetont, ich zeigte in dem Sinne keine nackte Haut.

 

Ich hatte die Ansage um 20:30 Uhr nach Hause zu kommen. Es war noch hell, vermutlich setzte die Dämmerung langsam ein. Die Straßenbeleuchtung war noch nicht an. Ich verabschiedete mich und ging den Weg, der auch Fahrradweg ist und direkt an der Straße liegt, nach Hause.

 

Plötzlich hörte ich Stimmen. Ich wurde wachsam, drehte mich aber nicht um. Ich hörte ein Fahrrad umfallen. Ich ignorierte es und ging etwas schneller. Ich hörte hektischen Atem hinter mir. Und dann war dieser Atem neben meinem Ohr, ein Arm über meiner Schulter, die Hand an meinem Busen. Eine Stimme sagte Hallo. Ich blieb abrupt stehen, schaute den Mann nicht an und drehte mich aus dessen Umarmung. Ich sagte mit bebender Stimme „lassen Sie mich in Ruhe!“.

 

Er ließ von mir ab. Ich sah einen zweiten Mann. Ich ging sofort weiter mit sehr schnellen Schritten. Ich bog in die nächste Straße ab und klingelte beim ersten Haus. Ein Mann öffnete die Tür und schaute mich fragend an. Unter Tränen sagte ich ihm, dass ich verfolgt werde und Angst hätte. Er schaute raus, holte sein Auto aus der Garage und brachte mich die restlichen 300m nach Hause.

 

Zu Hause angekommen weiß ich nur noch, dass ich erstmal nicht mehr aufhörte zu weinen. Dass wir dann die Polizei riefen. Dass zwei Beamte im Wohnzimmer standen, sagten, dass sie nichts tun können, weil ja nichts passiert wäre. Ich weiß noch, dass ich sagte, dass ich nie wieder raus gehen werde und einer der Beamten das irgendwie abschwächen wollte.

Ich habe die Männer nie wieder gesehen. Und ja, ich ging dennoch irgendwann wieder vor die Tür.

 

In meiner Schulzeit ab dem Alter von 12 Jahren, begann auch das Mobbing. Ich war ja immer schon eine Kugel, obwohl ich Sport machte.

Das meiste Mobbing nimmt man hin. Oder man lacht mit. Oder man ignoriert es. Aber es lähmt einen. Es macht einem Angst. Man möchte dort nicht mehr hin, oder dran vorbei gehen. Man denkt sich immer, wenn ich da hin gehe, was werden die dann sagen.

 

Das, was ich nie vergessen habe – vieles andere hat mich einfach nicht mehr interessiert – war, als ich einen Tag nach meinem Geburtstag mit tollen neuen Klamotten in die Schule kam, durch die Aula ging und von irgendwo her, von irgendwem den ich nicht kannte, es herüber schallte „Du fette Sau!“. Danach lachte eine ganze Gruppe. Ich ging stur weiter. Keine Regung, keine Reaktion. Ich habe diese Klamotten nie wieder in der Schule getragen.

 

Twen und älter

Ich lernte meinen Ex-Mann mit 18 Jahren kennen und war mit 23 verheiratet. Dementsprechend passierten keine körperlichen Übergriffe mehr und er war ein lieber Mann. Sein Ding war ein bißchen das Kleinhalten, wie z. B. aus einem unserer Gespräche ersichtlich, als ich fragte, wie sein Tag war und ein einfaches „gut“ zurück erhielt. Als ich weiter sagte „erzähl doch einfach mal“, kam nur „brauch ich nicht erzählen, verstehst du sowieso nicht“. Damals sagte ich nichts mehr, es hatte mich verletzt.

 

Es war nicht das einzige. Heute weiß ich, dass sowas in einer Beziehung nichts verloren hat und auch Macht über eine Person demonstrieren kann und soll.

 

Was mir sonst passierte (nicht mit meinem Ex-Mann), waren unterschwellige sexuelle Anzüglichkeiten und Mobbing bzw. das Kleinmachen im Job „du bist ja nur eine Frau“.

 

Ich werde hier nur vereinzelte Erlebnisse nennen, da der Umfang sonst diesen Blogpost sprengen würde. Die folgenden Gegebenheiten passierten alle nach meiner Scheidung, da war ich also schon über 35 Jahre alt. Immer noch eine ziemliche Kugel, aufreizende Kleidung also nicht möglich.

 

Ich wurde von wildfremden Männern als „Süße“ bezeichnet, oder die Hand eines Chefs lag plötzlich zu sehr auf Hüfthöhe.
Ich wurde von oben bis unten lüstern gemustert und angesprochen mit „Hallo… Engel…“ was aber so klang, als würde er sabbernd über einem Schnitzel sitzen.

 

Ich tanzte immer schon gern. Auch in Discotheken. Bei lauter Musik und Bewegung kann ich am besten Abschalten. Außer, man wird an einem Abend gleich mehrfach wie ein Objekt behandelt, oder als Frischware, die man sich einfach nimmt.


Wir waren auf einer Partymeile unterwegs. Erste Disco, der Eingang war mit schweren Samtvorhängen „verschlossen“. Ich zog die Vorhänge mit je einer Hand zur Seite, stand noch dazwischen und hielt die Stores fest, als ein Typ sein Gesicht in meinem Dekolleté versenkte. Ja, auch ich kann manchmal völlig perplex sein. Das Praktische war, dass er so einen „Man-Bun“ trug, also so einen Männerduttknubbel am Kopf. Ich grabschte mir also diesen Haarknubbel und zog heftig daran. Er protestierte, nannte mich Schlampe, und ging zu einer anderen und tanzte mit der. Ich atmete auf und ging weiter hinein. Ich lasse mir ungern meinen Abend nehmen und ging tanzen.


Nur kurze Zeit später wurde ich angetanzt. Daran ist ja zunächst nichts Verwerfliches. Als mich dann aber von vorne zwei Hände fest an der Hüfte packten, nach vorne zogen und sich ein Gefühl von sich anbahnendem Geschlechtsverkehr breit machte und ein geöffneter Mund mit wild schlabbernder Zunge auf mich zu kam, war es mir dann doch zu viel. Ich stieß ihn unsanft weg. Er schimpfte etwas, das ich nicht verstand und ging. Ist ja wenigstens schön, wenn man mit einer Abwehr seine Ruhe hat.

 

Ich ging erstmal was trinken um mich zu beruhigen und schnappte ein wenig Luft. Dann hörte ich aber ein geiles Lied und ging wieder rein. Beim Tanzen schaute ich mich immer um, ob sich wieder einer von diesen Herren näherte, aber es war sowieso äußerst voll, so dass Körperkontakt überhaupt nicht zu vermeiden war. Ich genoss das Lied… und wurde wieder angetanzt. Naja, war ja voll. Ich tanzte weiter, ohne mich dem Herrn zu widmen. Leider meinte er wohl, dass er seine Bemühungen nur intensivieren müsste, damit ich auf ihn reagierte und leckte mir seitlich am Hals beginnend über die Wange.


Dann hat es geklatscht. Aber keinen Beifall. Und ich verließ in hohem Tempo – soweit möglich – den Saal. Ich war bedient. Der Abend endgültig völlig versaut. Ich sammelte meine Freundinnen ein, die eher nicht gern tanzten und wir fuhren nach Hause.

 

Monate danach war ich mal wieder aus. Wie gesagt, ich liebe tanzen. Ich war allein unterwegs. Ich tanzte und fühlte mich gut. Ich wurde angetanzt. Ich ignorierte. Er drückte sich näher an mich. Ich ignorierte weiter. Bis er mir seinen Schniedel in die Hand drückte. Perplex schaute ich auf, er grinste und wollte noch was sagen. Ich verließ den Raum. Ich verließ die Disco. Ich verließ sogar die Stadt.

 

Seit dem habe ich immer Handdesinfektionsmittel dabei.  

 

Ich hatte auch tatsächlich eine Zeit lang versucht einen Mann übers Internet kennenzulernen. Heute würde ich jeder Frau sagen „MACH ES NICHT!“. Renn! Weit! Und sieh dich nicht um! Auch, wenn sich manche Paare wohl tatsächlich über Tinder & Co. gefunden haben und Parship damit wirbt, dass sich alle 11 Minuten ein Single verliebt – ja einer… was ist mit dem anderen? Scherz am Rande.

 

Die Gespräche und Angebote, die ich über solche Plattformen bekam, sind eigentlich nur noch unterirdisch und ich hoffe und glaube nach wie vor, dass sie nicht repräsentativ für alle Männer gesehen werden können. Aber es fällt einem echt schwer.

 

Die harmloseren Anfragen waren, ob ich ihm gebrauchte Unterwäsche zum Schnüffeln schicken könnte.
Einige Anfragen, ob man skypen kann, und ich sah mich nicht einer Person gegenüber, sondern einem erigierten Penis. Nun, da entwickelte sich langsam der Gedanke „hat man einen gesehen, hat man alle gesehen“ und man wird immer schlagfertiger. Ich meine, wen interessiert schon ein Nacktmull ohne Zähne…


Ich führte manchmal sogar nette Gespräche, wobei leider so manches darin gipfelte, ob man sich nicht am besten jetzt sofort für Sex treffen könnte und dann schaut, ob sich vielleicht noch eine Beziehung ergäbe, aber Freundschaft plus wär eh viel schöner.
Oder das Gespräch, in dem mir erklärt wurde, dass man Fetten einfach nur Komplimente machen muss, dann bekäme man sie schon ins Bett, da sie ja immer untervögelt seien. Aber ihm ist es wurscht, welche Fotze (sorry) er nehmen kann.

 

An diesem Punkt höre ich auf zu erzählen, weil es einfach zu frustrierend ist. Nein, sie sind nicht alle so. Und ja, auch Frauen sind scheiße. Dieser Blogpost dient aber nicht dazu, zu erörtern, dass wir alle besser miteinander umgehen sollten, sondern dazu, dass auch ich kein unbeschriebenes Blatt bin. Dass auch ich in der #metoo-Debatte mitreden kann.

 

Andere

Dann gibt es noch die Geschichten aus dem Umfeld. Von Leuten, die ich gut kenne, oder die mir von den Kursteilnehmern erzählt wurden.

 

Jede einzelne nehme ich mit und auf.

 

Darunter waren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt. Mit Vergewaltigung. Mit Erpressung. Mit Vorspielen einer Romanze mit betrügerischer Absicht. Mit Mobbing bis hin zu versuchtem Suizid.

 

Es sollte sich etwas ändern

Je mehr sich solche Erfahrungen häuften, umso vorsichtiger wurde ich, bis ich dieses Online-Zeugs ganz aufgab und mittlerweile aufpassen muss, nicht jeden Typen, der mich anspricht, die Augen auszukratzen. Nein, so schlimm ist es echt noch nicht, aber man wird vorsichtiger.

Die Ausbildung zur Selbstverteidigungstrainerin hat ihr übriges getan.

 

Ich trinke keinen Alkohol mehr. Also gar keinen mehr, nicht mehr nur einen über den Durst. Ich möchte reaktionsfähig bleiben. Egal in welcher Situation.

Ich gebe meine Telefonnummer nur noch seltenst heraus. Meinen Wohnort kennen nur sehr wenige Leute. Denen, die ihn kennen, bläue ich ein, nichts zu sagen und es nicht öffentlich zu machen.

 

Vor ein paar Jahren reifte dann der Gedanke, dass ich etwas für Menschen tun möchte. Dass ich ihnen beibringen möchte, für sich selbst einzustehen. Ich wollte sie von innen heraus stärken.

Die Silvesternacht in Köln 2015/2016 war noch nicht der ausschlaggebende Impuls, aber hat einiges dazu getan, dass ich mich fragte, warum konnten diese Frauen einfach nichts tun. Ich erinnerte mich an mich und die anerzogene Weigerung – ohne dass man darüber nachdenkt – sich zu wehren.

 

Und hier sind wir an dem Punkt, als ich sah, dass ich jemandem Selbstverteidigung mit auf den Weg geben kann und das mit allen meinen Gedanken und dem leicht unterschwelligen Coaching. Das Umdenken.

 

Wir dürfen und sollen uns wehren!
Wir sind kein Stück Fleisch oder Vieh!
Wir haben Rechte!

 

Es kann dauern, bis sich ein Umdenken einstellt, vielleicht passiert das auch nie. Ich möchte euch nur mit auf den Weg geben, ihr seid nicht allein. Wir Frauen sollten einfach mehr zusammenhalten. Wenn ihr merkt, dass etwas schief läuft, dann guckt, ob und wie ihr etwas ändern könnt. Manchmal hilft einfache Kommunikation. Vielleicht braucht ihr aber auch Hilfe von außen. Von Freunden, oder externen Beratungsstellen. Ihr seid nicht allein. Nehmt euch das Recht, euch Hilfe zu holen. Es ist euer Leben.

 

Ich möchte mit diesem Artikel kein Mitleid erhaschen. Ich habe alle Erlebnisse verarbeitet. Sie sind mir passiert, sie sind ein Teil von mir. Sowas lässt sich nicht löschen. Eine Frau, die vergewaltigt wurde, kann das Erlebte verarbeiten, vergessen wird sie es nie. Ich möchte euch hiermit zeigen, dass ich eure Ängste verstehe und dass ich auf eurer Seite bin und nicht vor euch stehe ohne Ahnung, wie es in euch aussieht.

 

Ein toller Kollege von mir hat gesagt, es ist nicht authentisch, wenn er eine Frauengruppe trainiert, die Handtasche geschultert, um zu zeigen, wie man sich gegen einen Handtaschenraub zur Wehr setzen kann. Und er sagte, er kann gar nicht nachempfinden, wie es uns Frauen mit erlebten Dingen oder Ängsten geht. Einfach weil er ein Mann ist. Das so zuzugeben fand ich unheimlich stark.

 

Es ist wichtig unter dieser Dunkelheit das Licht zu sehen.

 

 

Liebe Grüße